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Vor 80 Jahren wurde auch Bad Waldsee braun

Veröffentlicht am 22.03.2013 in Ortsverein

Die Ergebnisse der Reichstagswahl vom 5. März 1933. (Foto: Matthias Wagner)

Bad Waldsee Es ist die eine Sache, den geschichtlichen Blick zurück zu werfen auf die Anfänge der Nazi-Zeit in Deutschland. Trotz intensiver Aufarbeitung stellt sich vielen Menschen bis heute, oder auch gerade heute, die Frage: Wie konnte alles so weit kommen? Wie konnte Hitler, wie konnte die NSDAP, so unaufhaltsam die Macht übernehmen? Die Antworten darauf sind oft schmerzlich, verbunden mit vielen Konjunktiven wie: hätte, wäre, wenn. Ein zentraler Zeitpunkt hierbei ist die Reichstagswahl vom 5. März 1933 – die letzten freien Wahlen in Deutschland –, die sich jüngst zum 80. Mal gejährt hat.

Eine andere Sache ist es, den Blick von der großen Politik auf die kleine zu richten, auf das lokale Geschehen vor Ort. Dieser Blick ist besonders schmerzhaft, deckt er doch auf, dass die Machtübernahme der Nazis bis in die kleinste Verästelung vor sich ging. Emil Kaphegy, langjähriger SPD-Stadtrat und ehemals Geschichtslehrer am Bad Waldseer Gymnasium, hat sich bereits 1983, zum 50. Jahrestag der entscheidenden Reichstagswahl, mit der Stadtgeschichte Bad Waldsees auseinandergesetzt und die „Sicht von unten“ nachvollzogen, wie er in einem damals erschienen Aufsatz schreibt. Er kommt zu der Erkenntnis: „Über die Vorgänge in kleineren Städten und Gemeinden wurde der barmherzige Deckmantel des Schweigens gebreitet.“

Emil Kaphegyi hat von 1960 bis 1965 in Tübingen Geschichte studiert, die NS-Zeit war sein Hauptgebiet, über das er sich auch hat prüfen lassen. Als er sich zum 50. Jahrestag der Reichstagswahl 1933 mit der Stadtgeschichte von Waldsee befasste, steckte die Aufarbeitung der Nazi-Zeit in den Kommunen noch in den Kinderschuhen, erinnert er sich. „Die Stadtgeschichten waren noch immer weiße Flecken“, sagt Kaphegyi. „Die Akteure lebten ja noch.“ Der Grundgedanke hinter seiner Arbeit war: „Die große Geschichte hat man parat, aber ich wollte wissen, wie war das an der Basis? Wie ist das abgelaufen, wer waren die Akteure?“

Ein halbes Jahr lang hat Kaphegyi recherchiert – seine wichtigste Quelle war die Lokalzeitung, das „Waldseer Tagblatt“, wertvolle Informationen bekam er von Stadtarchivar Michael Barczyk. Sein Aufsatz „Das Jahr 1933: Auch Waldsee wird braun“ erschien 1983 und in gebundener Form im Buch „Bad Waldsee – Zeugnisse aus Zeit und Zeitung“ ein Jahr später. Namen nennt er bewusst im Text keine, weder von Tätern, noch von Opfern. Warum? „Es war 1983 und ich ein Reingeschmeckter“, sagt Kaphegyi. Es war die Anfangszeit, in der Kommunen ihre braune Geschichte aufzuarbeiten begannen. Zudem war er idealistisch getrieben, sagt Kaphegyi. „Ich hatte beim Verfassen die Idee: Namen sind Schall und Rauch, sie spielen keine Rollen, oder schlimmer: lenken ab. Was zählt, sind die puren Abläufe, die einzelnen Schritte. Es geht nur um die Sache.“

Und der ging Kaphegyi auf den Grund. Dabei hat er seinen Blick auch geweitet und die Entwicklungen in Waldsee mit denen umliegender Kommunen verglichen – mit Aulendorf, Schussenried und auch Saulgau. Ein interessantes Bild zeigt sich bei den Ergebnissen der Reichstagswahl am 5. März 1933 (siehe Grafik). Im Vergleich zur Wahl, die am 6. November 1932 durchgeführt wurde – also gerade einmal vier Monate zuvor –, hat die NSDAP überall kräftig zugelegt. Kaphegyi zieht hier einen direkten Vergleich zwischen Waldsee, wo die NSDAP von 19 auf 38,2 Prozent zulegte, und Schussenried mit einem Sprung von 17,3 auf fast identische 38,1. Die größten Einbußen verzeichnete das Zentrum (rund 12 Prozent in Waldsee und 17 Prozent in Schussenried).

Die Wahlbeteiligung war in Waldsee mit 88 Prozent sehr hoch und nur ein Prozent unter der in Schussenried und dem gesamten Reich. Schussenried ist für Kaphegyi deshalb besonders interessant, weil dort wie sonst nirgends Frauen in einer anderen Kabine wählten als Männer – dadurch konnte man geschlechtsspezifisches Wahlverhalten erkennen. 28,6 Prozent Frauen wählten dort die NSDAP, hingegen waren es 48,5 Prozent der Männer. Kaphegyis Fazit: „Frauen hielten verstärkt dem Zentrum die Treue und verhinderten eine satte Mehrheit der NSDAP.“ Da das Wahlergebnis insgesamt dem von Waldsee so sehr gleicht, glaubt er, dass dies auch für das geschlechtsspezifische Wahlverhalten hier zutrifft.

Obwohl die NSDAP bei dieser Wahl kräftig zugelegt hat, liegt der Stimmemanteil unter dem für Württemberg (41,7 Prozent) und für das gesamte Reich (43,9 Prozent). „Hier in Oberschwaben war das Zentrum tonangebend“, sagt Kaphegyi. Dennoch gab es einen „riesigen Einbruch“, wie er sagt.

Eine Besonderheit bei dieser Wahl stellt Aulendorf dar: Hier legte die NSDAP „nur“ rund zehn Prozent auf 28,7 Prozent zu. Kaphegyi erklärt das so: In Aulendorf lebten damals viele Bahnarbeiter, und auch wenn die NSDAP programmatisch die Arbeiter anzusprechen schien, zielte die Partei anfänglich in erster Linie auf den Mittelstand ab – auf den Lehrer als Ideologen und den Kaufmann als Aktiven. „Diese Gruppe war die gesellschaftliche Grundlage für die NSDAP“, sagt Kapghegyi. Die Arbeiter hingegen waren anfänglich noch den Kommunisten oder der SPD zugetan. Deshalb sei das Ergebnis für die NSDAP in Waldsee deutlich höher ausgefallen als in Aulendorf. „Hier in Waldsee, in einer Kleinstadt, wo das bürgerliche Element vorherrschte, hat die NSDAP angesetzt“, sagt Kaphegyi. Und nach und nach wurden alle Ebenen des Lebens in Waldsee gleichgeschaltet. Wie das in den unterschiedlichen Bereichen des Kleinstadtlebens geschah, lesen sie in den nächsten Folgen unserer Serie (siehe Kasten).

Von Kara Ballarin

(Erschienen: 21.03.2013 17:35)