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Wie der Waldseer Gemeinderat gleichgeschaltet wurde

Veröffentlicht am 31.03.2013 in Ortsverein

Nazis im Sitzungssaal des Waldseer Rathauses: Ab 1933 war der Gemeinderat fest in brauner Hand. (Foto: Stadtarchiv Bad W

Bad Waldsee: Aus heutiger Sicht fällt es schwer nachzuvollziehen, in welcher Geschwindigkeit im Jahr 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergreifen konnten – bis in die kleinste Verästelung der Kommunalpolitik hinein. Noch im Februar 1933, kurz vor der Reichstagswahl am 5. März, hatte die Zentrumspartei im Waldseer Tagblatt die NSDAP als eine „rücksichtslose Partei“ bezeichnet mit der Befürchtung, es drohe bald eine „brutale Parteiherrschaft“. Im Mai, also gerade einmal drei Monate später, haben die Zentrumspolitiker der Stadt resigniert und stimmten freiwillig ihrer Dezimierung im Gemeinderat zu.

„Ich will zeigen, wie das angefangen hat“, sagt Emil Kaphegyi, der in Tübingen Geschichte studiert und das Fach am Waldseer Gymnasium unterrichtet hat. Dafür hat er zum 50. Jahrestag der Reichtagswahl von 1933 ein halbes Jahr recherchiert – in der Lokalzeitung Waldseer Tagblatt und mit Informationen von Stadtarchivar Michael Barczyk. Zur Frage, wie der Waldseer Gemeinderat innerhalb so kurzer Zeit gleichgeschaltet werden konnte – so die damalige Wortwahl – hat er zudem die Gemeinderatsprotokolle dieser Zeit gesichtet. Seine Ergebnisse hat er 1983 im Aufsatz „Das Jahr 1933: Auch Waldsee wird braun“ und in gebundener Form im Buch „Bad Waldsee – Zeugnisse aus Zeit und Zeitung“ ein Jahr später veröffentlicht.

In seinem 1983 erschienenen Aufsatz nennt Emil Kaphegyi bewusst keine Namen – weder von Tätern, noch von Opfern. Es war die Anfangszeit, in der Kommunen ihre braune Geschichte aufzuarbeiten begannen. Zudem sei es ihm damals nicht um die handelnden Personen, sondern um die puren Abläufe gegangen, sagt er. Heute, 80 Jahre nach den Ereignissen, sollen die Namen so weit möglich allerdings genannt werden.

Zentrum: 15 – Kommunisten: eins

Der 16 Mitglieder starke Waldseer Gemeinderat bestand nach der Kommunalwahl von 1931 aus 15 Abgeordneten des Zentrums und einem der Kommunistischen Partei. So war das Gremium zu Zeiten der letzten freien Reichstagswahl vom März 1933 noch fest in den Händen des katholischen Zentrums, wie Kaphegyi schreibt. Nach der Wahl „steigt auch in Waldsee die braune Flut“, und das sehr schnell.

Die geschichtlichen Großereignisse sind bekannt: Nach dem Brand des Reichstags in Berlin am 27. Februar 1933 erreichte Reichskanzler Hitler beim Reichspräsidenten Hindenburg eine Notverordnung, durch die die Grundrechte der Weimarer Republik faktisch außer Kraft gesetzt wurden. Ein Kommunist, Marinus van der Lubbe, wurde für die Brandstiftung verantwortlich gemacht – die Richtigkeit seiner Täterschaft ist bis heute Gegenstand einer Kontroverse. Dank Notverordnung wurde es Abgeordneten der Kommunistischen Partei verboten, an Reichstagssitzungen teilzunehmen.

„Das hatte auch Auswirkungen bis Waldsee“, sagt Kaphegyi. Der kommunistische Stadtrat Friedrich Wäschle wurde zur Gemeinderatssitzung am 23. März 1933 nicht mehr geladen, „mit Rücksicht auf die politischen Umwälzungen“ – damit ging das Gremium, das noch gänzlich aus Zentrumsmitgliedern bestand, den Weg, der im ganzen Reich üblich war. Am 30. März, also morgen vor genau 80 Jahren, wird der Gemeinderat wie überall im Reich aufgelöst und soll sich bis zum 30. April neu bilden. Allerdings nicht durch Kommunalwahlen, sondern anhand der Ergebnisse der Reichstagswahl. „In diesem Zug wurden auch die Gemeinderäte verkleinert“, sagt Kaphegyi. „Das hatte für große Städte den Effekt, dass die kleinen Parteien rausfielen.“ Aufgund dieser Neuordnung gehörten dem Gremium zehn Abgeordnete an, aufgeteilt in:

Zentrum: sechs – NSDAP: vier

„Gleich von der ersten Sitzung an sieht man, dass die Braunhemden, obwohl in der Minderheit, tonangebend sind, und das Zentrum als Mehrheit kuscht“, schreibt Kaphegyi. NSDAP-Fraktionschef Stefan Lander beantragt, „im Zuge der Gleichschaltung“ einen kommissarischen Bürgermeister von der Behörde anzufordern. Zum Hintergrund: Der Waldseer Bürgermeister Lang war zu diesem Zeitpunkt bereits seit acht Monaten krank. Seine Geschäfte führte sein Stellvertreter: Karl Brauchle vom Zentrum. Ohne Widerspruch stimmt das Zentrum Landers Antrag zu.

Und Lander geht noch einen Schritt weiter. Er betont das Interesse der Nazis an guter Zusammenarbeit mit dem Zentrum, um im nächsten Atemzug einen weiteren Antrag zu stellen: Zentrumsstadtrat Karl Weber soll aus dem Gremium ausscheiden, „da wir es ablehnen, auf Grund der vorliegenden Akten beim Kommissariat, mit ihm zusammenzuarbeiten“, so Landers vages Argument. Die Nazis zielten damit bewusst auf die Schwächung des Zentrums, denn Weber war nicht nur auf dem ersten Listenplatz des Zentrums, sondern als Rechtsanwalt und erfahrener Stadtrat eine wichtige Persönlichkeit der Stadt. Weber geht, da er der Zusammenarbeit nicht im Wege stehen wolle – das Zentrum und zugleich auch das Gremium dezimiert sich. Das neue Machtverhältnis:

Zentrum: fünf – NSDAP: vier

Fünf Tage später wird der neu ernannte kommissarische Bürgermeister Ziegler aus Weingarten im Rathaus eingeführt. In der ersten Gemeinderatssitzung sagt er denjenigen den Kampf an, die meinten, „im Geist der letzten Zeit weiter zu wirken.“ Sein Antrittsgeschenk: Zur fruchtbaren Zusammenarbeit und im Zuge der Gleichschaltung soll ein weiteres Zentrumsmitglied ausscheiden. „Freiwillig und einstimmig“ ist laut Ratsprotokoll ein Stadtrat bereit, sofort zu gehen. Das zahlenmäßige Machtverhältnis im Rat ist ausgeglichen, die Zusammensetzung lautet:

Zentrum: vier – NSDAP: vier

So wird zwei Monate lang auf dem Waldseer Rathaus regiert, schreibt Kaphegyi. Ein Prüfungsausschuss, der der Verwaltung schärfer auf die Finger sehen soll, wird nicht paritätisch, sondern rein mit NSDAP-Abgeordneten besetzt. Auch das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters wird neu besetzt – aber nicht etwa mit dem dienstältesten Ratsmitglied, dem Zentrumsführer, sondern mit dem NSDAP-Fraktionschef Lander.

Anfang Juni wird der neue Bürgermeister Hermann Hegele aus Stuttgart in Waldsee eingesetzt – ein Bittgottesdienst gehört ebenfalls zu den Feierlichkeiten. In seiner Antrittsrede stellt er die Grundsätze der neuen Bewegung klar und bezeichnet sie als geistige Revolution: Gemeinnutz vor Eigennutz, Sparsamkeit und Sauberkeit, unbedingte Pflichterfüllung, Einer für alle, alle für einen! Alles mit Gottes Hilfe und Gottes Segen! Mit einem dreifachen „Sieg-Heil“ und dem Horst-Wessel-Lied endet diese und jede weitere Sitzung des Gemeinderats.

„Mit dem 25. Juli beginnt die Endphase der Gleichschaltung“, schreibt Kaphegyi. Drei Räte des Zentrum bleiben der Sitzung fern, da sie von der Kreisleitung aufgefordert worden seien, aus dem Gemeinderat auszuscheien, wie sie schriftlich erklären. Die Begründung: Übergang des Parteienstaates in das nationalsozialistische Reich. Sogleich stellt der vierte Zentrumsmann Antrag auf Entlassung aus dem Gremium aufgrund persönlicher und beruflicher Überlastung. Und er geht.

Die anderen drei Zentrumsräte legen Beschwerde gegen die Kreisleitung ein. NSDAP-Fraktionsführer Lander meint, die drei hätten Antrag auf Hospitation bei der NS-Fraktion stellen können und lehnt eine weitere Zusammenarbeit mit den Räten ab. Falls sie nicht freiwillig gehen, seien sie vom Gemeinderat auszuschließen, heißt laut Ratsprotokoll der einstimmige Beschluss. Im August berichtet das Waldseer Tagblatt hingegen, die drei Herren hätten im Zuge der Gleichschaltung ihr Mandat freiwliig niedergelegt. Das Ergebnis für die Zusammensetzung des Gremiums dadurch:

Zentrum: null – NSDAP: vier

Formal-juristisch ist das so dezimierte Gremium nicht beschlussfähig, Bürgermeister Hegele muss beim Oberamt die Erlaubnis zu Sitzungen mit einer Minderzahl einholen. Doch der 7. September bringt den Abschluss der Gleichschaltung in Waldsee. Feierlich verkündet der Bürgermeister im historischen Sitzungssaal, durch den Eintritt von sechs neuen Ratsmitgliedern sei für die Stadt Waldsee ein rein nationalsozialistischer Gemeinderat gebildet, die Idee des Dritten Reiches verwirklicht und die Verwaltung auch nach außen nationalsozialistisch gekennzeichnet. Die Nazis haben nun uneingeschränkte Macht und füllen den Gemeinderat auf zu:

NSDAP: zehn

Emil Kaphegyi war bei seiner Recherche auf der Suche nach der Antwort, wie es in der Anfangszeit der braunen Bewegung zu solch einer schnellen Gleichschaltung des Gemeinderats kommen konnte. Sein Fazit: „Dir Machtfülle der neuen Bewegung war ohne Zweifel groß. Aber einzelne sind sicher auch persönlich von der Richtigkeit der NS-Idee überzeugt. Sie schwimmen auf einer allgemeinen Woge der Zustimmung, des Stillhaltens oder der Resignation mit.

Er weist darauf hin, wie die Waldseer am 8. März in ihrer Zeitung wie der württembergische Staatspräsident Eugen Bolz, der als entschiedener Gegner der Nazis gilt, offiziell verkündet, er wolle für die Neuordnung kein Hindernis sein. Sie sehen das Zentrum im Reichstag am 23. März und später auch im Landtag dem Ermächtigungsgesetz zustimmen. Und sie hören am 2. April ihren Stadtpfarrer die Einstellung der deutschen Bischöfe erläutern: Sie ermahnen die Katholiken zur Treue gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit und zur gewissenhaften Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten.

„Wenn Bischof und Pfarrer das sagen, haben es viele Lezte vom Gewissen her nicht geschafft, sich dagegen zu stellen“, sagt Kaphegyi. „Heute wollen das die Menschen oft nicht wahrhaben, gerade in Bezug auf den Widerstand der Kirche.“ Doch zu diesem Thema mehr im vierten Teil unserer Serie.

(Erschienen: 29.03.2013 17:35)Von Kara Ballarin